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Worum es im Krieg in der Ukraine geht

Russland hat auf breiter Front eine Invasion im Nachbarland Ukraine gestartet. Fakten, Hintergründe und Folgen des Einmarsches.

Zita Affentranger, Sebastian Broschinski, Patrick Vögeli
Aktualisiert am 23. Februar 2022

Warum herrscht Krieg in der Ukraine?

Russland hat am frühen Morgen des 24. Februar eine Invasion des Landes begonnen. Die Ukraine wurde mit Raketen beschossen, zudem rücken russische Verbände von Norden, Osten und Süden vor. Es ist bereits von Dutzenden Toten und Zehntausenden Flüchtlingen die Rede. Moskau hatte in Grenznähe zur Ukraine seit Dezember 150’000 bis 190’000 Soldaten zusammengezogen. In Weissrussland, dem engsten Verbündeten des Kremls, wurden ebenfalls Einheiten stationiert, es ist das Aufmarschgebiet für den Angriff auf die Hauptstadt Kiew. Der Kreml behauptet, er komme mit der Intervention seinen Verbündeten in der Ostukraine zu Hilfe. Die «Volksrepubliken» Donezk und Luhansk, von Kiew abtrünnige Gebiete in der Ostukraine, hätten Russland um Hilfe gebeten, sagt Putin. Man habe deshalb eine «militärische Spezialoperation» beschlossen. Die Ukraine und Staaten auf der ganzen Welt haben den Überfall aufs Schärfste kritisiert.

Was will Moskau mit dem Angriff erreichen?

Russland werde die Ukraine «entmilitarisieren und entnazifizieren», sagt Putin in seiner Kriegsrede an die Nation. Er beschimpft die frei gewählte Regierung in Kiew seit Jahren wahlweise als «Junta» oder als «Nazis». «Entnazifizierung» bedeutet in seiner Logik deshalb, dass er die Führung in Kiew stürzen und durch russlandtreue Leute ersetzen will. Darauf deutet auch der rasche militärische Vorstoss Richtung Kiew hin. Das zweite Ziel betrifft die Entwaffnung der ukrainischen Armee: Putin hat die letzten Monate scharf kritisiert, dass der Westen die Ukraine auch mit modernsten Waffen aufgerüstet habe, nun spricht er von einer «Entmilitarisierung»: Durch den Raketenbeschuss wurden bereits Dutzende Militäreinrichtungen zerstört. Am Boden wird Russland nun versuchen, die ukrainische Armee möglichst schnell auszuschalten.

Hat die Ukraine eine Chance gegen den russischen Angriff?

Die Ukraine kann dem russischen Angriff auf die Dauer nicht standhalten. Sie ist zwar sehr viel besser ausgerüstet und trainiert als 2014, als Russland die Krim praktisch ohne Widerstand annektierte und in der Ostukraine vorstossen konnte. Die Nato und vor allem die USA haben der Ukraine geholfen, ihre Schlagkraft zu erhöhen mit Waffen, Instruktoren und gemeinsamen Militärübungen. Mehrere Mitgliedsländer haben die Waffenlieferungen seit dem russischen Aufmarsch massiv erhöht. Dennoch bleibt die moderne und riesige russische Armee viel schlagkräftiger. Doch militärische Stärke ist nicht alles: Die Ukrainer sind fest entschlossen, ihr Land zu verteidigen, Kiew hat eine Generalmobilmachung verkündet, jeder, der eine Waffe tragen kann, soll dies auch tun. Damit sind viele Opfer auf der ukrainischen Seite zu befürchten. Russland muss mit einem erbitterten Kampf auch aus dem Untergrund rechnen.

Greift Putin in der ganzen Ukraine an oder nur im Osten?

Die Angriffe betreffen die ganze Ukraine. Zu Beginn der Invasion hat Russland Ziele überall im Land mit Raketen beschossen. Im Visier waren vor allem militärische Einrichtungen, zum Beispiel Flugplätze, es wurden aber auch zivile Einrichtungen getroffen. Der Vorstoss am Boden richtet sich von Norden her vor allem gegen die Hauptstadt Kiew. Heftige Kämpfe gibt es zudem im Osten des Landes um die Städte Mariupol und Charkiw. Beschossen wird auch der Süden entlang des Schwarzen Meeres. Ein Vorstoss Richtung Westen, um das ganze Land zu besetzen, lässt sich bisher nicht ausmachen.

Wie gross ist die Gefahr einer nuklearen Eskalation?

Putin hat in seiner Kriegsrede ultimativ davor gewarnt, Russland anzugreifen. «Wir sind zu allem bereit, alle Entscheide sind getroffen», erklärte er mit scharfer Stimme. «Russland ist einer der mächtigsten Nuklearstaaten», drohte er, und verfüge auch sonst über zahlreiche Hightechwaffen. «In diesem Sinne sollte niemand den geringsten Zweifel daran haben, dass jeder potenzielle Aggressor besiegt wird.» Die Drohung richtet sich gegen den Westen, insbesondere natürlich gegen die USA. Präsident Joe Biden hat klargemacht, dass er nicht militärisch eingreifen und keine Soldaten in die Ukraine schicken werde. So gesehen ist die Gefahr einer nuklearen Eskalation klein.

Sind weitere Länder von einem russischen Angriff bedroht?

US-Präsident Joe Biden warnt, Putins Ambitionen gingen über die Ukraine hinaus. Er wolle die alte Sowjetunion wiederherstellen. Im Westen wären gemäss dieser Theorie neben der Ukraine auch Weissrussland und die baltischen Staaten in Gefahr. Weissrussland ist ein enger Verbündeter Moskaus und gehört bereits heute einer Union mit Russland an. Ein anderer Fall sind die drei baltischen Staaten Lettland, Estland und Litauen, denen Putin immer wieder mehr oder weniger offen gedroht hat. Die Länder gehören aber der Nato an und werden anders als die Ukraine im Kriegsfall von den Verbündeten verteidigt. Ein russischer Angriff würde hier also den Kriegseintritt vieler westlicher Staaten und der USA nach sich ziehen. Das wäre eine massive Eskalation und würde neben dem Krieg in der Ukraine die militärischen Möglichkeiten Russlands wohl übersteigen.

Verhängt der Westen jetzt die angedrohten, massiven Sanktionen?

Deutschland hat als Erstes die fertig gebaute Gas-Pipeline Nord Stream 2 auf Eis gelegt, die demnächst Gas direkt von Russland nach Deutschland bringen sollte. Es wurden neu viele Russen auf die schwarze Liste gesetzt, unter ihnen auch der Verteidigungsminister und der Generalstabschef. Gegen russische Banken wurden Sanktionen verhängt, und der Gebrauch des Dollar, der im russischen Wirtschaftssystem noch immer eine wichtige Rolle spielt, wird erschwert. Auch die russischen Oligarchen sind im Visier. Doch die ganz scharfen Massnahmen wurde noch ausgespart: Die USA und Grossbritannien hatten vor der Invasion davon gesprochen, Russlands Präsidenten und seine Familie persönlich auf die Sanktionsliste zu setzen, was ein massiver politischer Affront wäre. Auch die Abkopplung Russlands vom internationalen Zahlungsverkehrssystem Swift hat bisher nicht stattgefunden.

Was will Russland eigentlich von der Ukraine?

Russland will eine Ukraine mit beschränkter Souveränität und in der ukrainischen Innenpolitik mitreden. Dafür wurden in Kiew früher russlandfreundliche Spitzenpolitiker aufgebaut. 2004 brach die sogenannte orange Revolution aus, ein Volksaufstand gegen Wahlfälschungen, die dem Kandidaten Moskaus den Sieg gegen einen prowestlichen Reformer sichern sollten. Wochenlang gingen Hunderttausende Menschen auf die Strasse und entschieden den Machtkampf schliesslich für sich. Doch 2014 war man praktisch wieder gleich weit: Der von Russland beeinflusste Präsident Wiktor Janukowitsch wollte die geplante Westintegration beenden, was wiederum grosse und diesmal auch extrem gewalttätige Demonstrationen zur Folge hatte. Schliesslich flüchtete Janukowitsch nach Russland, und in Kiew wurde eine prowestliche Regierung installiert und später in Wahlen bestätigt.

Was ist das Problem mit der Krim?

In all den Wirren hat Russland die Chance genutzt, die ukrainische Halbinsel Krim zu besetzen und zu annektieren. Das geschah praktisch über Nacht, ohne dass ein einziger Schuss abgefeuert wurde. In Russland, aber auch bei den vielen ethnischen Russen auf der Krim, stiess die Annexion auf begeisterte Zustimmung. Die Halbinsel hatte seit 1783 zu Russland gehört, 1954 wurde die Krim im Rahmen von Festivitäten der ukrainischen Sowjetrepublik zugeschlagen. Damals hatte das in der Realität keinerlei Auswirkungen, doch nach dem Untergang der Sowjetunion 1991 war die Krim dann völkerrechtlich Teil der Ukraine. Die russische Führung hat das akzeptiert und die Grenzen der Ukraine in internationalen Verträgen abgesegnet. Kein westliches Land anerkennt heute die völkerrechtswidrige Annexion der Krim. Europäer und Amerikaner verhängten wirtschaftliche Strafmassnahmen gegen Russland, die Beziehungen sind seither auch politisch zerrüttet. Die Ukraine pocht darauf, dass das strategisch wichtige Gebiet an sie zurückgeht, was in absehbarer Zeit aber nicht passieren dürfte.

Was ist im Osten der Ukraine los?

Am 21. Februar hat Präsident Wladimir Putin der russischen Nation erklärt, dass er die von der Ukraine abtrünnigen Gebiete um die Städte Luhansk und Donezk als unabhängig anerkennen werde, weil die Ukraine nicht an einer friedlichen Lösung für die Ostukraine interessiert sei. Er schloss mit den beiden Gebieten ein Sicherheitsabkommen und drohte Kiew, wenn die ukrainische Armee die Gefechte an der Waffenstillstandslinie nicht beende, werde dies Konsequenzen haben. Noch am gleichen Abend kündigte er die Entsendung von Soldaten an, die er als «Friedenstruppen» bezeichnete. Ein geltendes, aber nicht umgesetztes Friedensabkommen hat Moskau für hinfällig erklärt. Über 13’000 Menschen wurden in dem Konflikt bisher getötet.

Warum haben sich die Gebiete von Kiew abgespalten?

Nach der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim hat es in der Ostukraine einen Krieg gegeben. Von Russland unterstützte Rebellen haben sich 2014 gegen die neue, westlich orientierte Regierung in Kiew aufgelehnt, die nach den wochenlangen, auch gewalttätigen Demonstrationen an die Macht kam. Die Rebellengebiete um die Städte Luhansk und Donezk, die sich traditionell eher nach Russland orientieren, wurden vom Kreml acht Jahre lang künstlich am Leben erhalten: militärisch, wirtschaftlich und politisch. Das verschafft Moskau Druckmöglichkeiten auf die unabhängige Ukraine. Heute steht die russische Armee in den Regionen, die Moskau angeblich vor der Ukraine retten musste.

Was will Russland von der Nato?

Präsident Wladimir Putin verlangt von der Nato schriftliche Sicherheitsgarantien und hat dafür einen Vertrag mit Forderungen vorgelegt. Darin sollte sich die Nato schriftlich und rechtlich verbindlich verpflichten, die Allianz nicht mehr weiter auszudehnen. Zudem dürfe die Nato keine «militärischen Aktivitäten» auf dem Territorium der Ukraine oder in «anderen Staaten Osteuropas, im Südkaukasus und Zentralasien» durchführen. Und die Nato soll keine «Truppen und Waffen auf das Territorium eines anderen europäischen Landes» verlegen, was sich erneut gegen die Ukraine richtet, die vom Westen mit Waffen versorgt wird. Und schliesslich soll die Nato ihre Truppen hinter ihre Grenzen von 1997 zurückziehen, was die Nato-Osterweiterung faktisch ungeschehen machen würde. Die Nato hat die Forderungen schriftlich klar zurückgewiesen. Putin reagierte scharf: Der Westen missachte die russischen Sicherheitsbedenken seit 30 Jahren, im Fall der Ukraine seien aber alle «roten Linien» überschritten worden.

Mitglieder der Nato in Europa (1949 bis heute)
vor dem Ende der Sowjetunion
nach dem Ende der Sowjetunion
Quelle: Nato

Was ist die Nato-Osterweiterung?

m Kalten Krieg waren die mitteleuropäischen Satellitenstaaten der Sowjetunion Teil des Warschauer Pakts, also des sowjetischen Verteidigungsbündnisses. Dieses stand der Nato gegenüber, in der die USA die zentrale Rolle spielen. Mit dem Rückzug der Sowjetunion aus Osteuropa und ihrem Zusammenbruch 1991 erlangten die Länder Mitteleuropas ihre volle Souveränität zurück und machten schnell klar, dass sie in die Nato aufgenommen werden wollten. Russland sah die Erweiterung der Nato von Anfang kritisch und machte sich nach dem Kalten Krieg für eine neue Sicherheitsarchitektur in Europa stark, konnte sich aber nicht durchsetzen. Als Erstes wurden 1999 Polen, Tschechien und Ungarn Nato-Mitglieder. 2004 folgte eine zweite Erweiterungsrunde, in der mit dem Baltikum erstmals einstige Sowjetrepubiken aufgenommen wurden. 2008 versicherte die Nato der Ukraine und Georgien, auch ihnen stünde der Weg offen in die Allianz, allerdings gibt es keinen konkreten Zeitplan dafür.

Mitglieder des Warschauer Pakts (1955 — 1991)
Sowjetunion
Blockstaaten
Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung
Aktuelle Situation für Russland
 

Warum ist die Erweiterung ein Problem für Russland?

Moskau klagt, mit dem Vorstossen an die russische Grenze bedrohe die Nato die Sicherheitsinteressen Russlands. Man will unbedingt verhindern, dass sich die Allianz mit der Ukraine weiter bis nach Russland ausdehnt. Strategisch besonders wichtig ist für Moskau die Kontrolle im Schwarzen Meer, die mit einer Nato-Mitgliedschaft der Ukraine sehr viel schwieriger würde. Russland hat dort seine Flotte stationiert. Die Nato gesteht ein, dass es noch Jahre dauern könnte, bis die Ukraine aufgenommen wird – wenn überhaupt. Doch sie weigert sich strikt, ihr und anderen Ländern wie Finnland oder Schweden den Zugang auf Druck Moskaus zu verweigern: Jedes Land habe das Recht, selber über seine Zugehörigkeit zu einem Militärbündnis zu entscheiden.

Geht es nur um die Ukraine, oder mischt sich Russland auch anderswo ein?

Neben der Ukraine steht vor allem Georgien unter Druck, ebenfalls eine ehemalige Sowjetrepublik mit einst engen Beziehungen zu Moskau. Tiflis will sich wie die Ukraine näher an den Westen anlehnen und in die Nato aufgenommen werden.

Prorussische Separatistengebiete rund um das Schwarze Meer

In den letzten Jahren ist dieser Wunsch zwar etwas in den Hintergrund gerückt, hatte zuvor aber zu massiven Verstimmungen, wirtschaftlichen Sanktionen und sogar einem kurzen militärischen Schlagabtausch geführt. Russland hat 2008 Truppen in das von Georgien abtrünnige Gebiet Südossetien geschickt, nachdem Tiflis versucht hatte, es mit Gewalt unter seine Kontrolle zu bringen. Im Anschluss hat Moskau beide georgischen Separatistengebiete, Südossetien und Abchasien, als unabhängig anerkannt. Russland gibt sich auch als politische und militärische Schutzmacht von Transnistrien, das zu Moldau gehört, seit 1990 aber faktisch unabhängig ist. Und auch im zwischen Armenien und Aserbeidschan umstrittenen Berg-Karabach sind russische Soldaten im Einsatz, die den dortigen Waffenstillstand überwachen.