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So haben Sie den Gletscherschwund noch nie gesehen

Simulationen der ETH Zürich und der Universität Freiburg zeigen, wie fünf Schweizer Gletscher verschwinden und was mit Klimaschutz noch zu retten ist.

Matthias Huss, Enrico Mattea, Mathias Lutz, Marc Brupbacher
Aktualisiert am 6. Juli 2022
Klimaszenario
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Rhonegletscher

 
Im Jahr 1884 wurden auf dem Rhonegletscher die ersten langfristigen Messungen weltweit zur Bestimmung der Gletscherschmelze durchgeführt. Der Gletscher ist touristisch gut erschlossen und bildet die Quelle der Rhone, eines der grössten Flüsse der Schweiz. Etwa im Jahr 2007 bildete sich am Ende des Gletschers ein See, der seither jährlich schnell anwächst.
mit Klimaschutz

Jahr 2100

ohne Klimaschutz

Jahr 2100

Zwischen 2030 und 2040 dürfte die Zunge des Rhonegletschers den Kontakt mit dem See verlieren, wie Berechnungen der ETH Zürich zeigen (siehe Methodik). Bis dann wird die heute noch häufig besuchte, künstliche Gletschergrotte, deren Bestehen mit weissem Vlies verlängert wird, wohl nicht mehr betrieben werden können. In einem Szenario mit starkem Temperaturanstieg verschwinden bis ins Jahr 2050 sämtliche kleinen Gletscher an den Flanken um den Rhonegletscher, und dessen Zunge ist von der heutigen Eisgrotte aus nicht mehr sichtbar. Dafür könnten mehrere Gletscherseen weiter oben die Landschaft ohne Eis prägen. Nach 2080 kann nicht einmal mehr der Eisfleck unter dem Dammastock der Sommerhitze widerstehen. Im Fall eines starken Klimaschutzes hingegen sehen wir sogar 2100 noch einen intakten Gletscher. Dennoch gehen auch in diesem Fall rund zwei Drittel des aktuellen Volumens verloren.

Vadret da Morteratsch

 
Der Vadret da Morteratsch im Engadin ist wohl der einzige Gletscher der Schweiz, dessen Zunge ab Bahnstation quasi mit dem Rollstuhl erreichbar war. Mit dem kürzlichen Rückzug des Eises hat sich dies nun aber geändert. Die 3 km lange Wanderung durch ein immer grüner werdendes Tal, entlang Jahrestafeln, die den Rückgang des Eises dokumentieren, ist eindrücklich.
mit Klimaschutz

Jahr 2100

ohne Klimaschutz

Jahr 2100

Die erste einschneidende Veränderung im Gletschersystem hat sich schon vor wenigen Jahren abgespielt: Der grösste Zufluss, der Vadret Pers, hat sich vom Hauptstrom abgetrennt und zieht sich schnell in ein Seitental zurück. Obwohl in den nächsten Jahrzehnten nach wie vor viel Eis durch das Spaltenlabyrinth des «Buuch» vom Piz Bernina zur Gletscherzunge fliesst, wird diese schnell dünner und verliert schliesslich – in jedem Szenario – den Zusammenhang mit dem Nährgebiet. Während sich der Gletscher mit von Schutt bedecktem Toteis auf der Zunge nach 2080 im günstigen Fall stabilisieren kann, geht ohne Klimaschutz fast alles Eis verloren. Auch im Tal des Morteratschgletschers könnten sich in Zukunft pittoreske Seen bilden.

Grosser Aletschgletscher

 
Mit einer Fläche von fast 80 km2 ist der Grosse Aletschgletscher mit Abstand der grösste Gletscher der Alpen. Seine 14 km lange Gletscherzunge mit den zwei Mittelmoränen ist weltbekannt. Im Aletschgletscher allein sind rund ein Fünftel des Eisvolumens der Schweiz gespeichert, und mit rund 800 Metern ist das Eis nirgends dicker als am Konkordiaplatz, wo drei grosse Gletscher zusammenfliessen.
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Jahr 2100

ohne Klimaschutz

Jahr 2100

Aufgrund seiner Grösse könnte man annehmen, dass der Aletschgletscher der Klimaänderung am besten trotzt. Das ist aber nur bedingt der Fall: Der Gletscher ist viel zu gross für das aktuelle Klima und wird sich auch im Fall eines starken Klimaschutzes massiv zurückziehen und bis 2100 über die Hälfte seines Volumens verlieren. Die geschwungene Gletscherzunge wird schnell kürzer und dünner. Bis 2050 geschieht dies fast unabhängig von der Klimaentwicklung. Ab etwa 2040 dürfte ein erster von vielen Seen im tief eingeschnittenen Tal unter dem Aletschgletscher zum Vorschein kommen. Die neuen Seen werden fortan die Landschaft prägen. Wenn die Menschheit die Klimakrise in den Griff bekommt, kann sich das Gletscherende bis ins Jahr 2100 stabilisieren, allerdings erst rund 10 km talaufwärts von der aktuellen Position. Ohne Klimaschutz hingegen könnte sich um etwa 2080 am Konkordiaplatz ein riesiger Gletschersee bilden. In diesem Extremszenario bleibt sogar am Jungfraujoch kein Eis mehr übrig.

Gornergletscher

 
Der Gornergletscher hat seinen Ursprung in den höchsten Gipfeln der Schweiz und ist der zweitgrösste Gletscher der Alpen. Der Gletscher setzt sich aus verschiedenen Zuflüssen zusammen, die den Zusammenhang mit dem Hauptstrom in den letzten Jahren teils schon verloren haben.
mit Klimaschutz

Jahr 2100

ohne Klimaschutz

Jahr 2100

Die Unterschiede zwischen moderatem und starkem Anstieg der Lufttemperaturen ist beim Gornergletscher besonders deutlich. Aufgrund seiner grossen Höhenerstreckung kann sich der Gletscher im Fall eines starken Klimaschutzes gegen Ende des Jahrhunderts stabilisieren. Allerdings bildet sich auch in diesem Fall eine Toteismasse unter der Monte-Rosa-Hütte, wo das Eis heute noch über 400 Meter dick ist. Schon in den nächsten Jahren dürfte das Eis Platz machen für einen grossen See vor der Gletscherzunge. Im Zusammenspiel mit einer künstlichen Staumauer könnte dieser in Zukunft eine wichtige Rolle in der Energiestrategie 2050 des Bundes spielen, wie der «Runde Tisch Wasserkraft» im Januar 2022 aufgezeigt hat. Allerdings wird das Seebecken gemäss den Modellrechnungen nur im pessimistischen Szenario vor 2050 eisfrei, während es im besten Fall bis zum Ende des Jahrhunderts teilweise mit Gletschereis gefüllt bleibt. Am Monte Rosa verbleibt auch bei extremer Klimaveränderung im Jahr 2100 noch etwas Eis übrig.

Silvretta

 
Mit weniger als 3 km2 ist der Silvrettagletscher der Zwerg unter den fünf ausgewählten Gletschern. Dennoch ist er für die Schweizer Gletscherbeobachtung sehr wichtig, da dort seit über 100 Jahren kontinuierlich detaillierte Messungen der Schneeanlagerung und Schmelze durchgeführt werden.
mit Klimaschutz

Jahr 2100

ohne Klimaschutz

Jahr 2100

Unabhängig vom Klimaszenario ist ein starker Rückgang des Eises in den nächsten Jahrzehnten zu beobachten. Der Gletscher ist schon heute relativ dünn, sodass eine Beschleunigung der Schmelze schnell zur Freilegung des Untergrunds führt. Im Fall einer moderaten Erwärmung mit starkem Klimaschutz verliert der Gletscher ab 2050 nur noch langsam an Dicke, da er sich ohne die tiefliegenden Bereiche mit starker Schmelze einem Gleichgewicht annähern kann. Die Glaziologen könnten die wertvolle Messreihe also noch bis Ende des 21. Jahrhunderts weiterführen. Kleine Gletscher sind zäher, als man denkt: Wenn wir die Klimakrise in den Griff bekommen, könnten viele überleben. Ganz anders sieht es ohne Klimaschutz aus: Die sogenannte Gleichgewichtslinie, also die Höhe, auf welcher Schnee den Sommer überleben kann, steigt in kurzer Zeit über den höchsten Punkt des Gletschers an. Damit bleibt ihm keine Chance, sich zu stabilisieren, und bis rund 2080 dürfte der letzte Eisrest verschwunden sein. Zurück bleibt eine Geröllwüste.
Die Entwicklung des Eisvolumens wurde durch das ETH-Berechnungsmodell für jeden Schweizer Gletscher und jedes Klimaszenario bestimmt. Ein Vergleich der 38 grössten Gletscher zeigt Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede in der Entwicklung:

Volumen der grössten Schweizer Gletscher bis ins Jahr 2100

mit Klimaschutz
ohne Klimaschutz
Grosser Aletsch
11.01 km3
202520502075210025%50%75%100%44%0%
Gorner
3.48 km3
202520502075210025%50%75%100%58%3%
Fiescher
3.3 km3
202520502075210025%50%75%100%55%1%
Unteraar
2.57 km3
202520502075210025%50%75%100%8%0%
Mit Ausnahme ganz weniger Gletscher, die ihren Ursprung auf über 4000 Metern haben, verschwindet alles Eis im schlimmsten Szenario. Bei solch einer Klimaentwicklung wäre es nicht nur für die Gletscher äusserst ungemütlich, sondern auch für die ganze Schweizer Bevölkerung – der Anstieg der Temperaturen in der Schweiz läge nämlich deutlich über den 4,4 Grad im weltweiten Mittel, was zu einer Vielzahl anderer Probleme wie extreme Hitze, Dürre und Starkregen führen wird. Die Reaktion der Gletscher bei einer Einhaltung des 1,5-°C-Ziels ist sehr verschieden: Während einzelne Gletscher (Unteraar, Plaine Morte, Forno) bis 2100 trotzdem fast ganz verschwinden, schaffen es andere, über die Hälfte ihres aktuellen Volumens zu behalten (Gorner, Fiescher, Allalin).
«Noch nie standen die Gletscher Ende Juni schlechter da»
Zum Interview mit ETH-Glaziologe Matthias Huss.

Methodik und Modellbeschreibung

Berechnung des Gletscherrückgangs

Die Entwicklung der Gletscher beruht auf einem Berechnungsmodell, das die Prozesse beschreibt, über welche das Eis auf eine Klimaveränderung reagiert (1). Einerseits wird berechnet, wie viel Schnee an jedem Punkt auf dem Gletscher fällt, andererseits wie viel aufgrund von höheren Temperaturen abschmilzt. Schliesslich wird bestimmt, wie sich die Eismasse durch das Fliessen bewegt und verändert. Die Berechnungen werden mit einer Vielzahl von Beobachtungsdaten aus den letzten Jahrzehnten überprüft, sodass realistische Vorhersagen in der Zukunft möglich sind. Obwohl der Ansatz dem aktuellsten Stand der Wissenschaft entspricht, führen nötige Vereinfachungen zu gewissen Unsicherheiten in den Resultaten. Das verwendete Berechnungsverfahren wurde auf alle Gletscher der Schweiz angewandt (2), und fünf Gletscher wurden ausgewählt.

Visualisierung

Die Visualisierungen basieren auf einem digitalen Modell der Geländeoberfläche, erstellt vom Bundesamt für Landestopografie (Swisstopo). Zusätzlich wird die aktuelle Ausdehnung der Gletscher verwendet (3). Zuerst werden die Gletscher vollständig entfernt, um das Grundgestein darunter freizulegen. Die Eisdicke ist aus Messungen mit Radar und Modellrechnungen bekannt (4). Mit der Form des eisfreien Untergrunds kann die voraussichtliche Lage zukünftiger Seen und Bäche bestimmt werden. Das Geländemodell wird dann mit einer Luftaufnahme überlagert. Das Bild wird so verarbeitet, dass es Felsen und Wasser anstelle von Schnee und Eis zeigt. Schließlich wird die Gletscheroberfläche, die für jedes Jahr des Zeitraums 2022-2100 berechnet worden ist, in Weiß über dem Gelände hinzugefügt.

Datenquellen
  • Bundesamt für Landestopografie swisstopo - swissAlti3D, SWISSIMAGE
  • Region Lombardei - DTM 5X5 - Modello digitale del terreno (ed. 2015); Lizenz
  • Region Aostatal - Digital Terrain Model (DTM); Lizenz
  • Land Vorarlberg - data.vorarlberg.gv.at; Lizenz
Klimaentwicklung

Die künftige Entwicklung der Gletscher wird für zwei Klimaszenarien während des 21. Jahrhunderts berechnet. Diese Szenarien wurden vom Weltklimarat definiert. Das optimistische Szenario SSP1-1.9 beschreibt eine Welt, in der die globalen CO2-Emissionen bis etwa 2050 auf netto null gesenkt werden. Damit wird das Ziel des Pariser Abkommens erreicht, die vom Menschen verursachte globale Erwärmung auf 1,5 Grad Celsius über den vorindustriellen Temperaturen zu begrenzen. Das pessimistische Szenario SSP5-8.5 zeigt eine Zukunft mit Wirtschaftswachstum, das durch die Verbrennung von Öl, Gas und Kohle angetrieben wird, mit einer prognostizierten weltweiten Erwärmung von 4,4 Grad Celsius bis zum Ende des Jahrhunderts.

Referenzen

(1) Huss, M. and Hock, R. (2015). A new model for global glacier change and sea-level rise. Frontiers in Earth Science, 3:54, doi:10.3389/feart.2015.00054.

(2) Steffen, T., Huss, M., Estermann, R., Hodel, E., and Farinotti, D. (in review). Volume, formation and sedimentation of future glacier lakes in Switzerland. Earth Surface Dynamics Discussions, doi:10.5194/esurf-2022-12.

(3) Linsbauer, A., Huss, M., Hodel, E., Bauder, A., Fischer, M., Weidmann, Y., Baertschi, H. and Schmassmann, E. (2021). The new Swiss Glacier Inventory SGI2016: From a topographic to a glaciological dataset. Frontiers in Earth Science, 9, 774, doi:10.3389/feart.2021.704189.

(4) Grab, M., Mattea, E., Bauder, B., Huss, M., Rabenstein, L., Hodel, E., Linsbauer, A., Hellmann, S., Church, G., Langhammer, L., Schmid, L., Deleze, K, Schaer, P., Lathion, P., Farinotti, D., Maurer, H. (2021). Ice thickness distribution of all Swiss glaciers based on extended ground-penetrating radar data and glaciological modeling. Journal of Glaciology, 1-19, doi:10.1017/jog.2021.55.