Tages-AnzeigerTages-Anzeiger

Die Schweiz beklagt in der zweiten Welle fast die höchste Übersterblichkeit in Europa

Seit Wochen sterben in der Schweiz wegen Corona deutlich mehr Menschen als normalerweise in dieser Jahreszeit – trotz Schutzmassnahmen. In vielen anderen Ländern ist die Lage weniger dramatisch.

Yannick Wiget, Mathias Lutz, Marc Brupbacher
Aktualisiert am 10. Dezember 2020

Was bleibt dereinst von dieser Pandemie? Über tägliche Neuinfektionen wird niemand mehr reden, wenn sich die Lage beruhigt hat. Aber die chronisch Kranken werden noch lange ein Thema sein, genauso wie die Todesopfer. An deren Anzahl wird dann gemessen, wie gut ein Land mit Corona fertig geworden ist. Und hier steht die Schweiz schlecht da.

Bis jetzt sind schon über 5700 Menschen nachweislich an Covid-19 gestorben. Pro Tag gibt es momentan etwa 76 Tote. Von vielen wird das mit einem Schulterzucken zur Kenntnis genommen. Ältere Menschen würden auch ohne die Pandemie sterben, das sei der Lauf der Dinge, ist ein viel gehörtes Argument. Das stimmt in vielen Fällen – doch es wären längst nicht so viele.

Schon während der erste Welle im März und April starben in der Schweiz deutlich mehr über 65-Jährige als normalerweise zu dieser Jahreszeit. Und jetzt, im Zuge der zweiten Welle, ist die Übersterblichkeit noch grösser.

Wöchentliche Todesfälle in der Schweiz
Die Statistik des BFS zeigt die Todesfälle in der Schweiz mit einer Verzögerung von gut einer Woche.
Sterblichkeit
Über- bzw. Untersterblichkeit
Anzahl Todesfälle pro Kalenderwoche
Quelle: Bundesamt für Statistik – Todesursachenstatistik

Das Bundesamt für Statistik (BFS) zählte in der Woche vom 23. bis zum 29. November 1742 Tote in dieser Altersgruppe. Das waren 49 Prozent mehr als im Normalfall. In den drei Wochen davor gab es um die 60 Prozent mehr Tote als im langjährigen Schnitt. Auf dem Höhepunkt der ersten Corona-Welle lag dieser Wert bei 46 Prozent. Die zweite Welle verläuft also deutlich tödlicher.

Und es sterben eben auch Jüngere: Seit Anfang November gab es bei den 30- bis 49-Jährigen acht Todesfälle und bei den 50- bis 59-Jährigen sogar 30. Allerdings verzeichnet das BFS bei diesen Altersgruppen momentan keine Übersterblichkeit.

Bei den über 65-Jährigen kommt eine solche auch unter normalen Bedingungen immer wieder mal vor: zum Beispiel während starken Grippewellen wie in den Wintern 2015 und 2017. Aber damals war die Übersterblichkeit viel tiefer als jetzt wegen der Corona-Pandemie – und das trotz all den Massnahmen, die in diesem Jahr ergriffen wurden, und einer Bevölkerung, die vorsichtiger agiert als in normalen Zeiten.

Übersterblichkeit

Der Begriff Übersterblichkeit bezeichnet eine Situation, in der es mehr Todesfälle gibt als erwartet. Diese Erwartungswerte werden vom BFS anhand der Fallzahlen der vorangegangenen 5 Jahre berechnet, unter Berücksichtigung der Veränderung der Bevölkerung. Es handelt sich nicht um einen exakten Wert, sondern um eine Bandbreite, innerhalb derer Schwankungen als zufällig gewertet werden. Liegen die gemeldeten Todesfallzahlen aber oberhalb dieser Bandbreite, dann spricht man von Übersterblichkeit. Sie betrifft fast ausschliesslich die Altersgruppe der über 65-Jährigen. Bei der jüngeren Bevölkerung gibt es auch in normalen Zeiten selten eine Übersterblichkeit.

Schon zum zweiten Mal in diesem Jahr erfasst die Schweiz eine aussergewöhnlich hohe Übersterblichkeit bei älteren Personen. Wie schneidet sie damit im internationalen Vergleich ab? Aufschluss geben Daten des Portals Euromomo, das vom dänischen Gesundheitsdienst für Infektionskrankheiten betrieben wird. Dieser arbeitet mit nationalen Behörden aus zwei Dutzend europäischen Ländern zusammen, darunter das Schweizer BFS.

Weil die Länder grosse Bevölkerungsunterschiede aufweisen, lassen sie sich nicht anhand von absoluten Zahlen vergleichen. Euromomo berechnet deshalb einen Index, den sogenannten Z-Score, der die Abweichung vom Mittelwert angibt. Die Schweiz kam im November auf einen Z-Score von 17. Nur Belgien und Slowenien hatten während der zweiten Welle einen höheren Wert. Andere Länder wie Estland, Dänemark und Norwegen verzeichnen gar keine Übersterblichkeit.

Z-Score: Übersterblichkeit in ausgewählten Ländern, über 65-Jährige
30. Dezember 2019 bis 29. November 2020
Über- bzw. Untersterblichkeit
Statistisch zu erwartender Bereich
Quelle: EuroMOMO – Z-Score

Bei der ersten Welle sah es noch anders aus. Da hatten 9 Länder eine höhere Übersterblichkeit als die Schweiz: Belgien, England, Frankreich, Irland, Italien, die Niederlanden, Schottland, Schweden und Spanien. Vor allem in Spanien und England starben im März und April viel mehr Menschen als normalerweise. Jetzt ist die Situation zumindest in Grossbritannien nicht mehr ganz so düster.

Das ist auch in den meisten anderen Ländern so. Fast überall schlug die Kurve der Todesfälle während der ersten Welle höher aus als jetzt. Das heisst, die dortigen Behörden haben scheinbar dazugelernt und die Opferzahlen zu einem gewissen Grad in den Griff bekommen. Zu den wenigen Ausnahmen gehört die Schweiz. Hier entwickeln sich die Todesfallzahlen entgegen dem europäischen Trend.

Innerhalb der Schweiz gibt es jedoch grosse regionale Unterschiede, wie BFS-Daten von 18 Kantonen zeigen. Von der ersten Welle wurden vor allem das Tessin und die Romandie hart getroffen. Die Kantone Genf und Waadt registrierten im April doppelt so viele Todesfälle wie normal, das Tessin sogar fast dreimal so viele. Die Deutschschweiz wurde im Frühling weitgehend verschont.

Wöchentliche Todesfälle in ausgewählten Kantonen, über 65-Jährige
5. Januar bis 29. November 2020
Über- bzw. Untersterblichkeit
Statistisch zu erwartender Bereich
Quelle: Bundesamt für Statistik – Todesursachenstatistik

Doch mit der zweiten Welle hat sich das geändert. Jetzt gibt es auch in der Deutschschweiz viel mehr Todesfälle. Besonders augenfällig ist die Übersterblichkeit in Bern, St. Gallen und Zürich. Aber auch Kantone mit grundsätzlich tieferen Fallzahlen beklagen auf einmal deutlich mehr Tote wie normalerweise. Im Thurgau beispielsweise sterben momentan fast doppelt so viele Menschen.

Schweizweit überschreitet die Kurve nun schon die sechste Woche in Folge die Obergrenze. Und ein Ende ist nicht absehbar. Denn praktisch alle deutschschweizer Kantone verzeichnen aktuell ein exponentielles Wachstum bei den Corona-Neuinfektionen und treiben die Pandemie wieder an. Der Anstieg der Todesfälle folgt demjenigen der Ansteckungen mit einer Verzögerung von etwa zwei Wochen.

Wie sich die Todesfallzahlen entwickelt hätten, wenn man der Pandemie freien Lauf gelassen hätte, kann man nur erahnen. Aber auch mit den Massnahmen seitens der Behörden wird die Übersterblichkeit weiter zunehmen. Zu den bislang gut 5600 Corona-Opfern in der Schweiz (hier erinnern wir uns an möglichst viele von ihnen), werden leider noch viele mehr dazu kommen.